EröffnungsredeChristiane Heuwinkel
Ein Strich, mehr nicht.
Der künstlerische Eingriff, den Jaro Varga für die Jodokus-Kirche projektiert hat und den wir hier und heute eröffnen, erscheint mehr als einfach, sehen wir uns das Plakat und die Einladungskarte an: Ein schwarzer Strich durchkreuzt im exakten 90-Grad-Winkel den in Rot gehaltenen Grundriss der Klosteranlage samt Kirchenraum und Kreuzgang. Ein inhaltlich wie gestalterisch präziser, strenger, ein bedeutsamer Eingriff.
In seiner Realisation wurde aus dem Strich eine Bank. Nichts wirklich einmaliges, mögen wir zunächst denken, befinden wir uns doch in einer Kirche, in der die Kirchenbank selbstverständlichstes und kaum bemerktes Grundmobiliar des Gottesdienstes, des Kirchgangs bildet.
Gehen und Sitzen: Nehmen wir den Kirchgang ernst, wird es schon komplexer, und nehmen wir den Kreuzgang noch hinzu (und beide Begriffe wörtlich) erschließt sich bereits der Hallraum, in dem der Künstler arbeitet.
Sitzen und Gehen: Für beide menschlichen Grundkonstellationen hat die Kirche eine Choreographie gefunden. Wir sitzen, wir versenken uns im Gebet und im Gesang, wir wandeln betend, meditierend im Kreuzgang, wir pilgern und wallfahrten zu weit entfernten Zielen, wir ergehen uns in einer Vielfalt unterschiedlich choreographierter Prozessionen.
Obwohl wir uns im Kreuzgang, dem idealen Quadrat (der Verschärfung des Rechtecks), bewegen, zirkulieren wir und nehmen damit den Widerspruch im Titel „Zirkulares Rechteck“ auf: Der Kreis ist ohne Anfang und Ende, das Quadrat dagegen mit Hierarchie, mit Festlegung verbunden.
Jaro Varga, 1982 geboren und in Prag und Berlin lebend, arbeitet mit Architektur und Erinnerung. Kein Wunder, dass die beiden Kuratoren der „Kunst im Kreuzgang“, Audrey Hörmann und Lars Hofnagel, sich eine Installation von Jaro Varga für den Kirchenraum von St. Jodokus wünschten.
Ein Kirchraum, der mitsamt der Geschichte des Franziskanerklosters und der Pfarrgemeinde St. Jodokus in Bielefeld auf eine über 500jährige, wechselvolle Geschichte zurückblicken kann. Diese Kirche zeigt mit ihrem „City-Kloster“, mit mutigen architektonischen Eingriffen in die materielle Substanz und unter anderem auch mit der mobilen Kloster-Bank, die in der Obernstraße aufgestellt, zum Verweilen und zum Gespräch einlädt, deutlich, dass diese jahrhundertealte Geschichte weiterentwickelt wird: von ihrer Gemeinde, von ihrer Gegenwärtigkeit.
Was macht nun den Kirchenraum aus? Das Kirchenschiff? Der Chor? Der Kreuzgang? Der Innenhof? Der Klostersaal? Das gesamte Kloster? Und die Stadt selbst? Wie kommt sie ins Spiel?
Jaro Varga gibt eine umfassende Antwort, indem er seine Kirchenbank durch den Kirchenkörper schiebt gewissermaßen wie der Zauberer im Zirkus das Schwert durch den Zauberkasten mit der Kontorsionistin (der Jungfrau?). Verzeihen Sie mir den im ersten Moment sicherlich unpassend erscheinenden Vergleich: Aber ist denn nicht auch die Idee, eine vollständige, vollkommene Kirchenarchitektur geradewegs zu durchkreuzen, zu durchbrechen, eine verblüffende, geradezu zauberische Geste? Und wird dieser strenge, kühl-kalkulierte Akt nicht gebrochen durch die Einritzungen des Künstlers, der sich, an seine persönliche Erfahrung auf der Kirchen- und Schulbank erinnernd, kleine Einzeichnungen, Ritzungen einfügt, die die Strenge des Konzepts mit einer ganz persönlichen Geste verbinden?
„Zirkulares Rechteck“: Das langgezogene Rechteck des Kirchenraums mit seiner Vielzahl von Kirchenbankreihen wird durchstoßen von einer neuen, anderen Bank. Sie fügt sich architektonisch-skulptural und auch farblich und im Material ein, jedoch setzt sie sich durch ihre Länge von 36 Metern ab. Sie beginnt nicht im Innenraum, vielmehr draußen, an der, der belebten Obernstraße zugewandten Seite, von der aus sie nach innen geht, sich durch den vom Kreuzgang umschlossenen Innenhof weiter in den Klostersaal schiebt .... einer Konkretion der Weiterführung bedarf es wohl nicht, sie können wir gedanklich weiterführen: Vom Außen nach Innen nach Außen. Aber auch: Quer zur architektonischen Achse, quer wie eine Sperre, eine Bremse, ein Innehalten – ein Gedanken-Stopp, ein Gedanken-Gang. Die äußere Bank lässt die Weiterführung im Inneren aufscheinen, so wie der Innenraum des Kreuzgangs nun zum Außenraum wird.
Eine Verbindung von Innen und Außen, eine Kreuzung des Kreuzgangs, ein Durchstoßen, um zu verbinden: Das „Zirkulare Rechteck“ ist ein Widerspruch in sich, ein Gedanken-Schritt, der kreis- und kreuzweise, quer zur Linearität, unsere gewohnten Gedankengänge durchkreuzt.
Wer ist innen, wer ist außen? Wer sitzt vorn, wer sitzt hinten? Sind die Wege in der Kirche vorgegeben oder finde ich meinen eigenen Weg? Wer mag da draußen sitzen neben mir, die ich im Innenraum bin? Bin ich eingeschlossen, ausgegrenzt von der Stadt und der Welt? Oder bin ich umfangen von dem sakralen Raum, seiner spezifischen Atmosphäre, die aufgeladen ist von einer in jahrhundertelanger, religiöser Praxis erworbenen Bedeutung?
Was empfinde ich, wenn ich mich draußen auf der Bank hinsetze? Zugehörigkeit? Oder auch Ausgegrenztheit von denen da drinnen? Vielleicht auch ein Nebeneinander? Oder sogar ein Miteinander? Eine Neugier, vom Außen zum Innen zu gehen und den Kirchenraum zu betreten?
Und bildet nicht dies Imaginäre des Neben- als Miteinanders auch die Idee der Communio ab? Die Idee des Gemeinschaftsmahls der Gläubigen mit Christus durch den Empfang der im Messopfer nach der Wandlung ausgeteilten Hostie: Kommunion als Gemeinschaft?
Fragen, die Jaro Vargas nur scheinbar „einfache“ Installation stellt. Aber ist nicht gerade die Kirche der Ort, Fragen zu stellen und zu entwickeln, ohne zwanghaft einfache Antworten oder gar Handlungsanleitungen geben zu müssen? Ein Ort, an dem wir Komplexität zulassen können?
Die Arbeit von Jaro Varga schließt sich in meiner Wahrnehmung an eine scheinbar ebenfalls „einfache“ Arbeit an, die 2011 im Rahmen der Renovierung und Neugestaltung des Chorraums von St. Jodokus durch Norbert Rademacher geschaffen wurde: Ich denke an die 14 schwarzen Tafeln, die die Kreuzwegstationen Christi als schwarze Schieferflächen, versehen mit kurzen Text-Impulsen, vom Bild ins Wort und dann in das eigene Bild der Betrachtenden überführen.
Keine allgemeingültige Verbildlichung des Leidens, keine vorgegebene Ikonographie mehr, vielmehr die Aufforderung an uns alle, unsere individuelle Vorstellungskraft zu nutzen, um nachzudenken, nachzuspüren, und dies unendliche Leiden in unser Bewusstsein einzusenken.
So emanzipatorisch-kraftvoll diese „einfache“ Geste des Bilderverzichts ist, ist sie für mich in gewisser Weise auch mit dem künstlerischen Zugriff Jaro Vargas zu verbinden, der ebenso emanzipatorisch-kraftvoll weniger sichtbare Bilder denn nachhaltige, nachhallende Gedanken- und Erinnerungs-Bilder schafft.
„Erinnerung und die Konstruktion von Wissen“ bezeichnet Varga als Essenz seiner künstlerischen Arbeit: „Erinnerung ist nicht statisch, sie ändert sich ständig, restrukturiert sich.“
Und so schafft der Künstler mit dem „Zirkularen Rechteck“ ein Gedanken-Kunstwerk, das so viel mehr ist als die körperlich-faktische Geste: Er verbindet nicht nur den städtischen Außen- mit dem kirchlichen Innenraum, sondern auch mit unseren höchst individuellen, veränderlichen Erinnerungs- und Gedankenräumen.
Die künstlerische Geste prägt, weit über ihren Ausstellungszeitraum hinaus, unser Bewusstsein - so wie ein Handabdruck unser Körpergedächtnis. Sie prägt nachhaltig und lässt uns von nun an Gemeinschaft, Mit- und Nebeneinander, Innen und Außenraum, Architektur und Gedächtnis, neu und immer wieder anders erleben.
Die Kirchenbank wird uns von nun an nie mehr nur Sitzgelegenheit sein.
Die Innenwelt der Außenwelt der InnenweltNils Emmerichs, Berlin
Für seine künstlerischere Intervention CIRCULAR RECTANGLE / ZIRKULARES RECHTECK in der St.-Jodokus-Kirche arbeitet der Künstler Jaro Varga mit nichts anderem, als mit einer Holzbank. Diese neue Bank ist in ihrer Form identisch zu den bereits vorhandenen Kirchenbänken. Hinter dieser simplen Feststellung verbergen sich Konsequenzen, die weit über Kunst und die Kunstgeschichte hinausreichen, die nicht nur Bereiche der Theologie, der Psychologie und des sensuellen Erlebens berühren, sondern die zu den tiefen Wurzeln menschlicher Existenz vordringen. Vargas Rauminstallation baut auf profunden wissenschaftlichen Erkenntnissen auf. Der Betrachter taucht in Erfahrungsräume ein, die eine geheimnisvolle Gegenwart in sich bergen und den aufgeklärten Menschen auffordern, über die Grenzen des sinnlich Erkennbaren hinaus, über das Metaphysische nachzudenken. Eine Kirche ist eine kraftgeladene Substanz, zu der wir eine primäre Verbindung haben. Varga hantiert mit dem Raum von St. Jodokus so wie der Bildhauer eine Skulptur in Ton formt. Die Holzbank erstreckt sich über den gesamten Innenraum und bildet so eine Art von eingebildetem, in sich verwachsenem Wirbel im Hauptschiff der Kirche. Genau eben diese Seherfahrung kann man am eigenen Leib erfahren, wenn man den Kreuzgang der St. Jodokus Kirche betritt, und auch dort diese mehrere meterlange Holzbank vorfindet, welche den gesamten Innen- und Außenraum des Kirchen- und Klosterkomplexes, geradezu stoisch durchzieht – ungewiss ob diese wirklich da ist oder nur von einer Unregelmäßigkeit im eigenen Auge herrührt oder gar aus dem eigenen Inneren kommt.
Ein „Ganzfeld“ nennt man einen strukturlosen, gleichmäßig das ganze Sehfeld ausfüllenden Raum, der durch seine Homogenität keinerlei Orientierung bietet. Vargas künstlerische Intervention hat die Wahrnehmung zum Thema seiner Kunst und demzufolge das Sehen selbst ansichtig gemacht. Der französische Phänomenologe Maurice Merlau-Ponty beschreibt das Sehen als „ein Mittel, um von sich selbst abwesend zu sein, von innen her der Spaltung des Seins beizuwohnen, durch die allein ich meiner Selbst innewerde.“ Seit Wassily Kandinsky aber haben Künstler immer wieder zu formulieren versucht, in welcher Weise das Geistige, das Spirituelle oder, um kartesisch zu sprechen, die mentale Substanz als selbstständige Erfahrungs- und Bewusstseinsqualität in das verweltlichte Zeitalter der Moderne mit eingebracht werden können. Doch wenn man CIRCULAR RECTANGLE / ZIRKULARES RECHTECK, betritt, öffnet sich ein immenser Raum, der noch viel größer erscheint als die äußere Gebäudehülle es erahnen lässt. In Anlehnung an Rainer Maria Rilkes poetische Wendung „Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum“, spricht der Künstler hier von einem Lichtstrahl, einem langen Satz in einem einzigen Atemzug; einem unendlichen Innenraum. Ohne Unterbrechungen und Abweichungen.
Solch paradoxe Außen-Innenerfahrungen kann man zuweilen auch beim Betreten von Kathedral-Bauten beobachten, wie etwa im französischen Chartres, oder dem Markusdom in Venedig, wo das Leuchten der vergoldeten Innenwände einen unendlichen Innenraum entstehen lässt. In der St.-Jodokus-Kirche in Bielefeld kann der Weg des Besuchers vom Äußeren des Gebäudes bis ins Innere, der vom Vorplatz der Kirche über den Kreuzgang und dann über eine Folge von Räumen und Gängen führt, auch als Gang ins eigene Innere verstanden werden. Vargas geschaffene Raumerweiterung, in die der Betrachter eintaucht, haben eine geheimnisvolle, aber unausweichliche Gegenwart, die den aufgeklärten Menschen aufruft, über die grundsätzlichen Dinge des Lebens nachzudenken. Die Aufforderung, die sich im Werk dieses Künstlers verbirgt, ist eine verborgene Wahrheit, sie ist aber gleichzeitig zutiefst human, denn sie rührt an dem Streben des Menschen, ganz Mensch zu werden.
Über das WerkZirkulares Rechteck
Als Kind habe ich mir immer die Wandmalereien an der Decke der Kirche angesehen. Es war der erste Ort, an dem ich auf sehr komplexe Weise mit der Kunst in Kontakt gekommen bin, von Architektur und Malerei bis hin zu Gesang und Performance. Als ich Messdiener wurde, wechselte meine Rolle vom Beobachter des Spektakels der Heiligen Messe zum „Schauspieler auf der Bühne“. Jetzt, eingeladen, ein Kunstwerk in St. Jodokus zu schaffen, habe ich das Gefühl, dass etwas Ähnliches passieren kann. Etwas, das den Betrachter zum Performer werden lässt.
Ich schuf eine neue Bank, die die gesamte Kirche und das Klostergebäude durchquert. Sie kreuzt den Raum wie ein Lichtstrahl, ein Pfeil, eine Zeitleiste, ein unendliches Bücherregal, eine unendliche Kniebank für die Gläubigen oder wie ein langer Satz, der in einem Atemzug gesprochen wird. Im Kreieren dieser Bank eröffne ich die Möglichkeit für eine neue Topographie der Bewegung in der Kirche. Ich möchte, dass der Betrachter ein anderes Verständnis für den Raum gewinnt, als das, was wir stereotypisch in unserem Gedächtnis fixiert haben. Ich bin daran interessiert, zu verstehen, wie in dieser Art von Situation Gedächtnis entsteht und wie Gedächtnis durch Körperbewegung performt wird. Gedächtnis – Erinnerungsvermögen –, das nicht statisch ist, sondern sich verändert und sich restrukturiert. Erinnerung, die ständig „im Werden“ ist. Meine eigene Erinnerung, als Kind stundenlang in der Kirche Zeit damit verbracht zu haben, in die Kanten der Bänke versteckte Zeichen für zukünftige Leser zu ritzen. Die Erinnerung des Betrachters an den Raum von St. Jodokus mit oder ohne Bank.
Das Gedächtnis des Raums selbst. – Jaro Varga
Über den KünstlerJaro Varga
Jaro Varga jarovarga.net ist ein slowakischer bildender Künstler und Kurator mit Sitz in Prag, Tschechien. Er erwarb einen Master-Abschluss und promovierte an der Academy of Fine Arts and Design in Bratislava, und er nahm am Studentenaustausch an der Academy of Fine Arts in Wien, der Academy of Fine Arts in Wroclaw und der Slippery Rock University of Pennsylvania in den USA teil. Er stellte in Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland aus, darunter „Where do we go from here?“ in der Wiener Secession (2010), „Public Folklore“ im Grazer Kunstverein in Graz (2011), „Delete“ in der Slowakischen Nationalgalerie in Bratislava (2012), „Vulnerable Failures“ im National Museum of Modern and Contemporary Art in Seoul (2013), „City Diary“ bei der Triangle Arts Association in New York (2013), „Dysraphic City“ im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien in Berlin (2013), „When Artists Speak Truth“ in The 8th Floor Gallery in New York (2016), Prague Biennale 6 (2013), Bukarest Biennale 7 (2016), „In Someone Else‘s Dream“ in der SODA Gallery in Bratislava (2017), „Missing Something and Itself Missing“ in der Ivan Gallery Bukarest, „About Books“ bei AlbumArte Rome (2018), History ist seine Geschichte bei NEST ruimte voor kunst, „The Hague“ (2019) und viele andere.
Als Artist in Residence arbeitete Varga unter anderem im Museums Quartier 21 (Wien), Futura (Prag), Heppen Transfer (Warschau), AIR Krems, Center for Art and Architecture ZK/U (Berlin), Triangle Arts Association (New York), dem National Museum of Modern and Contemporary Art (Seoul).