Impressionen
Werke
- Eröffnungsrede
- Barmherzigkeit – Reflexion in der Kunst
- Über den Künstler
EröffnungsredeHenrike Mund
Es ist nicht das erste Mal, dass Costantino Ciervo eine Ausstellung für eine Kirche konzipiert. 1994 realisierte er zusammen mit Ottomar Kiefer in der Kirche San Martino di Lupari in Padua anlässlich der dortigen X. Biennale die Arbeit „Il terzo escluso“ (Der Dritte ist ausgeschlossen). In der Apsis der Kirche brachten die Künstler aus Neonröhren gestaltete „Digitalanzeigen“, so genannte „Siebensegmentanzeigen“ an, um auf diesen den Satz „IL TERZO ESCLUSO“ (Der Dritte ist ausgeschlossen) Buchstabe für Buchstabe einzublenden, und zwar im so genannten ASCII-Code, bestehend aus den Ziffern 0 und 1. Im Computerzeitalter ist der ASCII-Code der Standard-Code für Schriftzeichen. Der durch die Ziffern 0 und 1 definierte Binärcode kennt dabei symbolisch nur „falsch“ (0) und „wahr“ (1). Dazwischen gibt es nichts. Wie der Titel der Arbeit, der zusätzlich auf der obersten Treppenstufe zum Altarraum in Holz zu lesen war, angibt, ist damit „Der Dritte ausgeschlossen“. Vor diese mathematische Logik von „Wahr“ oder „Falsch“ trat im Kirchenraum der Mensch mit seinen Sehnsüchten, Erwartungen, Ungewissheiten, wobei sich ihm Fragen aufdrängen mussten wie: Ist das die „Wahrheit“? Was verstehen wir von der „Wahrheit“? Gibt es nur „Falsch“ und „Wahr“, „Schwarz“ und „Weiß“? An der Schwelle zum Altarraum wurde beim Betrachter eine Reflektion und Bewusstmachung in Gang gesetzt, die wesentlicher Bestandteil von Ciervos Kunst ist.
Costantino Ciervo wurde 1961 in Neapel geboren. Von 1980 bis 1982 studierte er Ökonomie und Politik an der Universität für Wirtschaft und Handel in Neapel, doch der Wunsch, Künstler zu werden, überwog, und er begann, freischaffend als solcher zu arbeiten. 1984 zog er nach West-Berlin, wo er neben seiner Tätigkeit als Künstler ab 1988 ein Studium der Philosophie und Kunstwissenschaft an der TU aufnahm, das er drei Jahre lang verfolgte. Costantino Ciervo lebt und arbeitet bis heute in Berlin. Sein Werk war in zahlreichen Ausstellungen zu sehen, prominent ist nicht zuletzt seine Teilnahme an der Biennale von Venedig 1992.
Wie aus dem kurzen Abriss des Lebensweges zu ersehen ist, begleiten sein Künstlerdasein stete Reflektionen über Politik, die Mechanismen der Weltwirtschaft, die Phänomene der Globalisierung, die Gesellschaft und Kultur. Während meines Besuchs in seinem Atelier habe ich ihn als einen ernsthaften, nachdenklichen und intelligenten Künstler kennen gelernt, der über das aktuelle Zeitgeschehen immer wieder zu grundlegenden Fragen des Daseins kommt. In seiner Kunst verbinden sich eine historische und eine metahistorische Ebene. Vor einem konkreten zeithistorischen Hintergrund gibt es immer auch eine „zeitlose“ Komponente, grundlegende Fragestellungen und Eigenschaften, die sich seit Menschengedenken nicht ändern. Costantino Ciervo ist ein Künstler, der mitten im Informationszeitalter den Zustand der Gesellschaft und des Einzelnen kritisch hinterfragt, wobei er nicht pessimistisch oder anprangernd den Zeigefinger hebt, sondern der Welt und dem Menschen gegenüber grundsätzlich positiv gegenübersteht. Dies kommt nicht zuletzt dadurch, dass er in der Kunst das Potential erkennt, Bewusstsein zu inspirieren und zu fördern.
Für St. Jodokus in Bielefeld hat er einen künstlerischen Parcours erdacht, bei dem er fünf Arbeiten, ergänzt um drei Zeichnungen, in eine ihm passend erscheinende Abfolge gebracht hat. Die Ausstellung hat er lateinisch „Exsolutio“ betitelt, was übersetzt sowohl „Befreiung“ als auch „Erlösung“ meint, eine Grundsehnsucht der Menschheit, die den Hintergrund aller ausgestellten Werke bildet.
Die Installation „Exodus“ im ursprünglichen Eingangsbereich der Kirche zeigt drei Gliederpuppen, deren Köpfe aus weißen Tellern geformt sind. Auf diese projiziert ein Mini-Videobeamer, den jede in der rechten Hand hält, die Schrift einer monotheistischen Weltreligion: den jüdischen Tanach, die christliche Bibel und den islamischen Koran. Wind blättert auf den Projektionen die Seiten der Bücher um, in der entsprechenden Leserichtung, von links nach rechts bzw. rechts nach links. Die drei Puppen, die komplett mit getrockneten Kichererbsen überzogen sind, umstehen eine mit Reis gefüllte Zinkwanne. In dieser befindet sich ein Monitor, auf dessen Bildschirm ein überfülltes, im Meer treibendes Flüchtlingsboot zu sehen ist. Laut Ciervo behandeln alle Weltreligionen das Thema der Flucht, der Migration und des Exodus. Man denke nicht zuletzt an Moses Auszug aus Ägypten mit dem jüdischen Volk in das gelobte Land. Es ist ein Thema, das alle Weltreligionen verbindet und bis heute einen Archetyp menschlichen Daseins darstellt. Der Fluchtgedanke, der eng mit dem Erlösungsgedanken verbunden ist, ist allen Religionen gemein, selbst wenn die drei Puppen, die von der Vielzahl der Kichererbsen, Sinnbild der eigenen Gläubigen, getragen werden, selbstreferentiell den Projektor nur auf sich richten. Das Thema der Flucht, heute so aktuell wie lange nicht, hat kein Ende. Der kurze Videoclip, den Ciervo im ewigen Loop laufen lässt, zeigt, dass der Mensch auf seiner Flucht im Grunde nie ans Ziel kommt. Ähnlich wie die Kichererbsen steht der Reis für die Menschheit. Wie diese stellt auch er ein Grundnahrungsmittel dar und verweist auf die Bedürfnisse der Menschen, die sich einerseits gleichen, andererseits vielfältig und unterschiedlich sind.
Ebenfalls im ursprünglichen Eingangsbereich, hinter einer in Verlängerung des südlichen Seitenschiffes eingezogenen Trennwand, befindet sich die Arbeit „Contiguous“ (Angrenzend). Die Installation besteht aus drei kleinen Tret-Eimern mit Deckeln. Die Deckel stehen offen und geben den Blick auf drei kreisrunde Monitore frei, die jeweils in einem Schwarz-Weiß-Video einen schreitenden nackten Menschen aus der Luftperspektive zeigen. Es handelt sich um Menschen verschiedener Ethnien, einen Asiaten, eine Europäerin und einen Afrikaner. Sie laufen über eine sich in verschiedene Richtungen drehende Weltkarte, die hin und wieder von Wasser überspült wird. Dabei blicken sie in Abständen nach oben und fragen auf Englisch „Who am I?“ bzw. in ihrer Muttersprache „Wer bin ich?“. Wie der Titel „Contiguous“ (Angrenzend) besagt, geht es um die Frage nach Grenzen in unserer heutigen globalisierten Welt, um das Überschreiten von Kontinenten, um Migration, vielleicht gar wieder um Flucht. Wie das Wasser deutlich macht, verschwimmen und verwischen die Grenzen zusehends, die Zugehörigkeit zu Nationen löst sich auf, was wiederum neue Fragen an die Identität des Einzelnen und an die von Gesellschaften stellt. Die auf Hochglanz polierten Mülleimer führen dabei ein Paradox der kapitalistischen Gesellschaft vor Augen: sterile Ästhetisierung einerseits, Wegwerfgesellschaft andererseits. Ist sie das Ziel der Überwindung von Grenzen?
Die dritte Installation, „The Ten Commandments“ (Die zehn Gebote) an der Westwand des Kreuzganges, besteht aus zehn Wörtern in Neonschrift, die 2007 in einem Artikel der italienischen Zeitung Corriere della Sera als die prägenden Eigenschaften heutiger kapitalistischer Gesellschaften definiert wurden. Es sind „work, market, authority, respect, reward, sacrifice, order, merit, competition, education“, also „Arbeit, Markt, Autorität, Respekt, Belohnung, Opferbereitschaft, Ordnung, Verdienst, Konkurrenz, Erziehung“. Begriffe wie „Liebe“, „Gerechtigkeit“ oder „Solidarität“ fehlen in diesem Dekalog. Verbindendes Element aller Wörter ist die Figur eines Läufers, der aus Stahlspiegel geschnitten ist und somit als Silhouette erscheint. Einerseits verdunkelt der Spiegel, so dass der Läufer nur als Schattenmann wahrgenommen wird, was den Eindruck seiner Geschwindigkeit nochmals erhöht, andererseits spiegelt sich jeder Betrachter beim Betrachten in der Figur selbst. Der Zwang der profitorientierten Gesellschaften zu immer größerer Beschleunigung, sprich zu immer mehr Wachstum und Effizienz, wird durch die Pose des Läufers in der Kurve unterstrichen. Die Figur kann nicht stehenbleiben ohne umzukippen. Auch in dieser Installation ist der Fluchtgedanke mit dem Ziel der „exsolutio“, der Erlösung, implizit, allerdings stärker bezogen auf den Einzelnen als auf die Gesellschaft. Mit der ewigen Beschleunigung zielt der Mensch auf ein besseres, optimiertes Leben, zugleich ist es auch eine Flucht des Menschen vor sich selbst.
An der Ostwand des Kreuzganges befindet sich die Videoskulptur „Try again“ von 2013. Flucht ist hier eher im kleinen Maßstab zu verstehen, als das Wegziehen der Hände vor denjenigen des Gegenübers, die einen abklatschen wollen. Im Zentrum der Arbeit steht jenes Spiel, bei dem zwei Personen ihre Hände mit den Fingerspitzen aneinander halten. Einer versucht die Hände des anderen abzuklatschen, dieser muss die Hände wegziehen. Erst wenn er getroffen wird, ist er an der Reihe, sein Gegenüber abzuklatschen. In der Installation, einem rechteckigen Kasten aus poliertem Edelstahl, ist dieser Zeitvertreib links auf einem Monitor zu sehen. Zwei Jungs in der Pubertät spielen das Spiel des Wettkampfes und der schnellen Reflexe. Für den Betrachter der Arbeit ist der Kontext zunächst nicht klar: Die in Nahsicht gezeigten aneinandergehaltenen Hände erinnern auf den ersten Blick an die Haltung des Gebetes und der Demut. Diese verkehrt sich dann jedoch in das beschriebene aggressive Reaktionsspiel, das Vorschnellen und Abklatschen der Hände. Immer wieder kehren die Hände in den irreführenden Ausgangspunkt zurück. Rechts im Edelstahlkasten ist ein Prisma eingelassen, auf dessen drei spiegelnden Seiten die Worte „Try again“ eingraviert sind. Jeder Abklatschversuch wird von dem Drehen des Prismas begleitet, so dass sich die Worte „Try again“ stetig wiederholen. Gebetsmühlenartig begleiten sie den von Anspannung und Entladung der Aggression getragenen Versuch. Oder aber die Protagonisten werden durch die Worte (quasi gesprochen von jemand außerhalb, dem Betrachter, der sich in der Skulptur spiegelt, oder ihrer eigenen inneren Stimme) dazu aufgefordert, wie unter Zwang, das Spiel weiterzuspielen, obwohl es keinen Gewinner gibt, da es endlos fortsetzbar ist. Eine Befreiung aus der endlosen Spirale wechselnder Machtdemonstration und Gewalt, die hier als nur als Spiel von Pubertierenden vorgeführt wird, scheint nicht möglich
Die letzte Installation in der Nähe des Altarraums, die aus einer emaillierten Waschschüssel mit einem eingelassenen Monitor besteht und im kirchlichen Kontext Assoziationen an ein Weihwasserbecken hervorruft, trägt den Titel „Flip Flop“. Bei dieser Arbeit liegt der Fokus auf dem Einzelnen, dem Individuum. Rückblickend könnte man sagen, dass Ciervos künstlerischer Parcours von gesamtgesellschaftlichen Phänomenen über die zwischenmenschliche Beziehung hin zum Blick auf die Einzelperson fortschreitet, wenngleich in den ersten Arbeiten der Einzelne als Teil der Gesellschaft ebenso zu berücksichtigen ist wie in letzter Arbeit des Verhalten des Einzelnen durch das bestehende Gesellschaftssystem determiniert wird.
In letzter Arbeit ist die Waschschüssel mit einer Platte abgedeckt und das Video nur durch ein kleines kreisrundes Loch zu sehen. Es zeigt einen Mann in schwarzer Hose, weißem Hemd und mit roter Krawatte, der barfuß auf zwei parallel laufenden Holzleisten balanciert. Die Kamera nimmt ihn von oben in den Blick. Unter ihm, unter den Holzleisten, kreist bedrohlich ein Wasserstrudel. Der Mann hält einen Stapel Blätter in der Hand. Es ist nicht zu erkennen, was darauf steht und ob etwas darauf steht. Nervös blättert er in dem Stapel und hält ihn immer wieder fast flehentlich über seinen Kopf in die Kamera. Immer wieder dreht er sich auf den Balken und schwankt. Neben der Bedrohung von unten, die er aber kaum zu beachten scheint, blickt er ab und an von seinen Zetteln nach oben auf merkwürdig geflügelte Insekten, die sich bei näherem Hinsehen als geflügelte Kichererbsen erweisen. Er versucht sie, die ihm lästig erscheinen, mit den Zetteln zu verscheuchen, was aber nur temporär gelingt. In der ersten Installation wurden die Kichererbsen als Sinnbild für die Grundbedürfnisse des Menschen gedeutet. Auch hier mögen sie für die grundsätzlichen Bedürfnisse des Mannes stehen, die immer wieder auftauchen, von denen er aber nichts wissen will. Unzufrieden mit den Zetteln zerknüllt er einige und steckt sie in die Hosentasche, andere wirft er weg. Schließlich beginnt er, die Zettel auch in seinen Mund zu stopfen, was schließlich einen Würgereiz hervorruft, sodass er das Gleichgewicht verliert und in die Tiefe stürzt.
Angesichts dieser Arbeit könnte man fast von einem Gleichnis für das Leben des Einzelnen in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft sprechen: der Fokus liegt auf Arbeitskraft und Leistung, das Streben nach Profitmaximierung steht im Vordergrund, menschliche Bedürfnisse sind nebensächlich und werden nicht berücksichtigt, selbst Umweltzerstörung, hier vielleicht im Strudel mit thematisieret, wird in Kauf genommen. Wie prekär das Leben des Einzelnen in diesem System ist und ob es ein Entkommen und eine „Erlösung“ aus diesem System gibt, wirft das Ende des Videos als kritische Frage auf.
Der Titel der Arbeit mag zunächst Irritationen verursachen, denn der schlappende „Flip Flop“, den man gern im Sommer trägt, ist hier sicherlich nicht gemeint. Der Begriff kommt aus dem Bereich der Elektronik, wo ein Flip-Flop eine elektronische Schaltung meint, bei der Daten solange übertragen werden, solange die Schaltung zwei stabile Zustände einnimmt. Damit die Speicherung erfolgen kann, muss allerdings eine dauerhafte Spannungsversorgung gewährleistet sein. Dies könnte auf Ciervos Arbeit passen: beide Holzleisten markieren den stabilen Zustand, der Mann in dauernder Anspannung steht für die Verbindung. Ständige Anspannung als Dauerzustand der heutigen Gesellschaft zur Gewährleistung ihrer Funktionsfähigkeit ist in Berichten, Studien und Erhebungen ja zur Genüge belegt.
Wie der Titel „Flip Flop“ zeigt, steht Ciervo mit seinen Arbeiten mitten im Informationszeitalter. Neueste Technologien der heutigen digitalen Welt sind in seine Arbeiten integriert. Ciervo wird gern mit der Fluxus-Bewegung der 1960er Jahre in Verbindung gebracht, was nicht zuletzt die Präsenz seiner Werke in der Sammlung des Potsdamer museum FLUXUS + verdeutlicht oder seine Zugehörigkeit zur ehemaligen Galerie Vostell in Berlin. Wolf Vostell war Initiator von Fluxus, Happening, Performance, Multimedia und Environment und neben Beuys einer der bekanntesten deutschen Künstler in den 1960er Jahren. Ziel Vostells war es, gesellschaftliche Zusammenhänge sichtbar zu machen und hierdurch Bewusstsein zu erweitern. Vostell gilt als Pionier der Videokunst. Er war der erste Künstler, der einen Fernseher in ein Kunstwerk integrierte (1958), auch akustisch-elektronische Geräte nahm er in seine Arbeiten mit auf. Den Kern von Fluxus bildete die Überführung von Kunst in den Alltag und umgekehrt: Kunst ist Leben; Leben ist Kunst. Anders als die Fluxus-Bewegung Vostells ist Ciervos Kunst jedoch nie lautstark, der Aspekt der zerstörerischen Provokation der 1960er Jahre fehlt. Seine Arbeiten sind klar, präzise umgesetzt, manchmal von kühler und steriler Ästhetik, sie sind still und machen nachdenklich.
Abgesehen davon verbinden sich bei ihm neueste Technologien mit einfachsten Materialien. Man denke an die Kichererbsen, den Reis, die Zinkwanne, die Waschschüssel – ein Aspekt, der Ciervos Kunst zugleich in eine Traditionslinie mit der Arte Povera-Bewegung Italiens aus den 1960er und 1970er Jahren stellt. Zeitgenössische Technologie einerseits, Einfachheit und ärmliche Materialien andererseits.
Ciervo, der mathematisch-technisch interessiert ist, stellt die Welt der Algorithmen der kreatürlich-instinktgeleiteten Natur gegenüber, die digitale Welt der analogen Welt. Für viele bedeuten diese zwei Seiten heute immer noch Unvereinbarkeit und verursachen Unbehagen. 2005 sagte Ciervo hierzu in einem Interview: „Wir erleben eher unbewusst als bewusst eine globale Aggression seitens der Biomacht, also der kapitalistischen, hierarchischen Strukturen und durch den Einsatz der Technologie. Diese Aggression geschieht auf mystifizierte Art innerhalb einer Gesellschaft, die uns vorgaukelt, sie sei progressiv und liberal. In der Tat erleben wir eine Wissenschaft und einen Fortschritt, die jedes Sein oder Wesen durchdringen können, aber wir (das Dasein) können Wissenschaft nicht durchdringen.“ Ciervo hat hier eine zentrale Fragestellung formuliert, die im kommenden Jahrzehnt noch dringlicher werden wird: die nach dem Standpunkt des Menschen in einer globalisierten und informationstechnisch nicht nur vernetzten, sondern immer stärker gesteuerten Welt. Dass er für diese Welt ein kritisches Bewusstsein schafft, ohne die Entwicklung als unaufhaltbares Horrorszenarium zu skizzieren, sondern im Gegenteil versucht, in seiner Kunst diesen Zustand zu entmystifizieren und im Zeitalter der Informationsflut Erkenntnis zu schaffen, macht seine Kunst zu einem wesentlichen Sprachrohr der heutigen Zeit, das auf jeden Fall Gehör bzw. Betrachtung finden sollte.
Barmherzigkeit – Reflexion in der KunstConstantino Ciervo
Liebe Gemeinde,
liebe Besucher des Gottesdienstes,
ich freue mich über die Einladung, und fühle mich geehrt, als Künstler über die Barmherzigkeit in Bezug auf die Kunst und natürlich im Besonderen auf die hier ausgestellten Werke von mir zu sprechen.
Sicher stellt sich für viele der hier Anwesenden die Frage: Was bedeuten diese Kunstwerke? Was haben sie mit der Kirche zu tun? Und was haben sie mit einem heiligen Ort zu tun? Was hat die profane Nacktheit von Menschen, die eingeschlossen sind in kleinen Edelstahleimern, wie sie im Badezimmer verwendet werden, hiermit zu tun? Was haben Schaufensterpuppen, die man normalerweise in Geschäftsvitrinen findet, hiermit zu tun? Was haben Wörter in roter Leuchtschrift, wie sie normalerweise für Straßenreklame verwendet werden, damit zu tun? Oder die Zeichnungen mit übergroßen Insekten und Labyrinthen?
Oder das Video, in dem man die Hände zweier junger Männer sieht, die ein aggressives Reaktionsspiel inszenieren? Oder der geschäftsmäßig bekleidete Mann in der kleinen Waschschüssel, der waghalsig auf zwei roten Balken über einem gefährlichen Wasserstrudel balanciert? Und: Was sollte dies alles mit der Barmherzigkeit zu tun haben?
Ich gebe zu, es ist nicht ganz einfach das zu erklären, zumal in nur wenigen Minuten. Aber ich will es versuchen.
Denn wenn es wahr ist, dass ein Baum mehrere Jahre braucht, um zu wachsen, ist es ebenfalls wahr, dass es nur wenige Augenblicke braucht, um ihn zu pflanzen. Zudem benötigt man gute Erde und Wasser, damit er wachsen kann. Wenn das Wasser der gute Wille ist, und wir die Erde sind, dann können wir beginnen.
Der Dreh- und Angelpunkt meiner Ausstellung „exsolutio“ hier in Sankt Jodokus ist die Installation „exodus“, die sich im ursprünglichen Eingangsbereich der Kirche befindet.
Drei mit Kichererbsen verkleidete Schaufensterpuppen haben anstelle des Kopfes einen Porzellanteller, auf den die Skulpturen selbst durch einen Beamer, den sie in der Hand halten, Bilder projizieren: Von links nach rechts sieht man einen Koran, eine Bibel und eine Tora, deren Seiten vom Wind hin und her geblättert werden. Die Bücher blicken auf ein Flüchtlingsboot, das in einem Meer aus Reis zu navigieren scheint. In meiner Auslegung sind die drei heiligen Bücher von demjenigen, alleinigen Gott geschrieben, der für mich, aber ich denke auch für die Theologie, die Synthese der drei wichtigsten und übergeordneten Begriffe der Existenz darstellt: Die Liebe, die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit.
Nun könnte man natürlich einwerfen: Aber wir befinden uns doch in einer christlichen Kirche, was hat der Koran da zu suchen? Er hat viel damit zu tun, denn wie auch Papst Franziskus erklärt hat, ist der Gott des Koran derselbe, wie in der Bibel und in der Tora. Zudem habe ich herausgefunden, dass der am meisten zitierte und zentrale Prophet in allen drei Büchern Moses ist. Moses hat, wie wir wissen, von Gott den Auftrag erhalten, sein Volk aus der Sklaverei zu befreien und in das versprochene Land – als Symbol für Freiheit und Glückseligkeit – zu führen. Eine Reise, die Jahrzehnte lang dauerte, man könnte sagen, fast ein Leben lang. Und die nicht ohne große Schwierigkeiten vonstattenging, mit Verrat und Gewalt. Aber trotzdem hat Moses nicht aufgegeben, nicht sein Volk trotz des Verrates im Stich gelassen. Denn er wird nicht angetrieben von der Pflicht, sondern von der Liebe zu Gott und zu den Brüdern und Schwestern seines Volkes. Ein Pakt, der zudem durch die 10 Gebote sanktioniert wird. Moses ist ja von Gott erwählt worden, aber es ist auch Moses, der Gott gewählt hat. Obwohl er Angst hatte vor der Last der Aufgabe, für die er auch seine Familie verlassen musste, hatte er Vertrauen in die Liebe von Gott.
Ich denke, die Figur Moses ist für mich eine schöne Metapher, für das was jeder von uns ist oder sein könnte. Jeder von uns könnte ein kleiner Moses sein. Jeder von uns flieht vor etwas. Jeder von uns strebt nach Freiheit.
Wer ist nicht schon einmal gefangen gewesen von Hass, von Intoleranz, von Oberflächlichkeit? Welches Volk ist in seiner Geschichte nicht schon einmal Migrant gewesen? Welches Volk musste nicht schon einmal Hunger, Ungerechtigkeit und Krieg erleiden? Welche Mutter oder welcher Vater hat nicht schon einmal gekämpft, um das eigene Kind zu schützen? Wie oft haben wir unseren Kindern die Fehler verziehen, die sie begangen haben?
Wie oft sind wir geflüchtet oder wollen wir fliehen vor einer Arbeit, die uns nur stresst und entfremdet. Wie oft haben wir unsere Freiheit und Würde in einem Arbeitsplatz gesucht? Wie oft haben wir unsere Freiheit verloren, weil wir unseren Arbeitsplatz verloren haben?
Jeder von uns kann wählen, ob er sich Moses nähert, oder sich von ihm entfernt. Ob er nur an sich selbst und das eigene Interesse denkt, oder den Weg der Nächstenliebe und Barmherzigkeit einschlägt. Dies ist nicht nur eine moralisch-ethische und religiöse Wahl, sie beinhaltet auch Weisheit und praktische Vorteilhaftigkeit.
Doch kehren wir zurück zur Skulptur „exodus“. Der Hautüberzug der Figuren aus Kichererbsen und das Meer aus Reis stellen die Menschheit dar. Denn sie sind viele, sie ähneln sich und zugleich ist jedes für sich einzigartig. Die Kichererbsen kleben am Körper der Figuren, die die heiligen Schriften darstellen. Ich benutze das Wort kleben als Synonym von binden. So wie das biblische Volk durch die 10 Gebote an die Worte Gottes gebunden ist. Und das Wort Gottes ist, wie eingangs erwähnt, Liebe, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Aber die Barmherzigkeit ist nicht nur Mitleid, sie beinhaltet auch Reflexion und Verstehen.
Baruch Spinoza, ein Philosoph des 17. Jahrhunderts mit jüdischen Wurzeln, sagt uns: „Nicht verlachen, nicht beklagen, nicht verdammen, sondern verstehen.“ Die Arbeiten, die im Kreuzgang gezeigt werden, beschäftigen sich somit mit der Frage nach den Ursachen des Exodus, und zwar nicht historisch, sondern gegenwärtig. Wir sind die Menschheit, das „auserwählte Volk“, und die Kultur und die Ideologie der Wirtschaft, die rein profitorientiert agiert, entspricht dem Ägypten des Pharao Ramses.
Die 10 Leuchtschriften sind eine entsprechende Zusammenfassung: Arbeit, Verdienst, Autorität, Ordnung, Respekt, Markt, Konkurrenz, Erziehung, Opferbereitschaft und Belohnung. In dieser Zusammenstellung repräsentieren sie eine Art neue Religion, die unser Leben stark beeinflusst. Wir können feststellen, dass in diesem Konzept, Begriffe wie Solidarität, Gerechtigkeit, Liebe oder Toleranz komplett fehlen. Die zu diesen Schriften gehörende Läuferfigur aus spiegelndem Stahlblech ist ein Athlet im Moment der Beschleunigung. Somit ist das Bindeglied der 10 Begriffe anstelle der Reflexion allein nur die Geschwindigkeit.
Sind wir alle von der Geschwindigkeit gefangen? Man kann sich fragen, warum dann diese Begriffe nicht etwa in einer Börse sondern in einer Kirche ausgestellt werden?
Meine Antwort darauf lautet: Die Kirche ist ein heiliger Ort, denn sie ist ein Ort der Wahrheit. Und das Ziel der Kunst ist, sich durch eine symbolisch-visuelle Sprache der Wahrhaftigkeit zu nähern. In diesem Sinn konkurriert die Kunst nicht mit dem Heiligen, mit der Wahrheit, sie tritt vielmehr in einen Dialog damit.
Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint, so wie der Baum, wenn er als Samen gepflanzt wird, so geht es mir in all meiner Kunst um eine Dimension des Menschseins, die nicht im Widerspruch steht zum Kontext der Religion und besonders des Christentums.
Vielen Dank.
Über den KünstlerConstantino Ciervo
Costantino Ciervo ciervo.org wurde 1961 in Neapel (Italien) geboren und lebt und arbeitet seit 1984 in Berlin. Ciervo ist einer der führenden Pioniere der interaktiven Videoinstallation und Skulptur. Er studierte Ökonomie und Politikwissenschaften an der Universität für Wirtschaft und Handel, Neapel und Philosophie und Kunstgeschichte an der Technischen Universität, Berlin. 1993 nahm er an der Biennale von Venedig teil. Er wurde 2004 für den 11. Marler Videokunstpreis und 2006 für den renommierten Käthe-Kollwitz-Preis der Akademie der Künste (Berlin) nominiert. 2009 erfolgte die Aufnahme in den Deutschen Künstlerbund. 2012 war Ciervo Stipendiat der Hans und Charlotte Krull Stiftung, Berlin.